Auf meiner ersten langen Reise, als ich mit 26 Jahren nach Indien ging, habe ich Vieles entdeckt – vor allem mich selbst, meine Bedürfnisse und die Kraft des Alleinreisens.
Rückblickend war es nicht überraschend und ebenso notwendig, nach Abschluss meines Studiums meinen Rucksack zu packen und auf die Reise zu gehen. Es sollte ein Ort sein, der weit genug vom „Alltagsscheiß“ entfernt war, ohne große Sprachbarriere, mit Meer, Bergen, sommerlichen Temperaturen, einigermaßen sicher (für eine alleinreisende Frau), nicht zu teuer, von Freunden empfohlen und kulturell reizvoll. Indien entsprach damals allen meinen Kriterien.
So machte ich mich an einem kalten Dezembertag mit einem viel zu vollen Rucksack auf die Reise und startete als Couchsurferin bei zwei Inderinnen in Bangalore. Schon mit ihren ersten Fragen zu mir und meinem Leben begann sich etwas zu verändern.
Ich weiß noch ganz genau, wie ich am ersten Abend den zwei jungen Frauen, die mich kennenlernen wollten, gegenüber saß. Genau dort wurde mir zum ersten Mal bewusst, dass ich an diesem Ort (auf einer Dachterrasse mitten in einer indischen Großstadt), an diesem ersten Abend, in genau dieser Gesellschaft, keine Freundin, keine Schwester, keine Tochter, keine Enkelin, keine Kommilitonin, keine Geliebte, keine Nachbarin und auch keine Konkurrentin war. Ich war einfach nur ich. Ich war eine Reisende ohne Begleitung und die dazugehörige Rolle. Ich hatte quasi meinen eigenen Resetknopf gedrückt. Ich war nicht nur meinen Gastgeberinnen unbekannt. Ich war auch mir selbst unbekannt und das war für mich irgendwie neu und beeindruckend.

Mit jeder neuen Begegnung wurde ich wieder gefragt, wer ich bin, woher ich komme, wohin ich gehe und was ich mache. Immer und immer wieder. Und genauso oft habe ich mir auch selbst die Fragen beantworten müssen, wer ich eigentlich bin, was mich ausmacht und was ich möchte. Soweit ich mich heute erinnern kann, habe ich jedes Mal versucht, alle Fragen ehrlich zu beantworten. Und mit jedem näheren Kennenlernen bin ich von einer unbekannten Reisenden zu einer befreiten, übermüdeten, glücklichen, rastlosen, traurigen, neugierigen, hilflosen, beneidenswerten Person und sogar einer Freundin geworden. Ich konnte mir nicht aussuchen, wer ich sein wollte, sondern ich war all das. Und bin es vermutlich noch.
Allerdings war ich frei (oder sehr viel freier als zuvor) in meiner Selbstbestimmtheit. Ich war der Chef meiner Ein-Personen-Reisetruppe. Das war anfangs noch etwas ungewohnt, aber lief nach ein paar Tagen besser und besser. Nach einigen Wochen war ich Profi darin, mich selbst nach meinen Bedürfnissen zu befragen: Heute wandern oder Stadt erkunden? Allein losziehen oder mit dem sich streitenden russischen Pärchen vom Vorabend treffen? Bei der Großfamilie meiner indischen Couchsurferin unterkommen oder ein Mehrbettzimmer im Budget-Hostel reservieren? Zum gefühlt hunderttausendsten Mal Dal mit Reis frühstücken oder doch mal Pommes beim Burger Giganten essen? Lesen oder Musik hören? Weiterziehen oder bleiben? Fragen zu mir beantworten oder schweigen?
Weit weg von all dem, was mein geschätztes, alltägliches Leben ausgemacht hat, habe ich viel über mich selbst und meine Bedürfnisse gelernt.
Ganz bestimmt kann man das auch erleben, ohne auf Reisen gehen zu müssen. Eine Freundin beispielsweise hat ihre kleinen „Reisen“ zu sich selbst, wenn sie abends alleine loszieht. Aber ich habe es zum ersten Mal und so intensiv auf meiner ersten langen Reise mit mir selbst erlebt.
Warum ich mich damals entschied, allein zu reisen? Um ehrlich zu sein traf ich dazu nie eine Entscheidung. Von der ersten Reiseidee an, war in meinen Gedanken nie eine zweite Person.
Inzwischen reise ich eigentlich gar nicht mehr allein, aber ich weiß, dass ich es immer wieder könnte und würde jedem raten, es zu versuchen.
Dieser Text ist entstanden für die Blogparade „Was ich auf Reisen fürs Leben lernte“ von Maria „Die digitale Nomadenfotografin“ (heute bloggt und schreibt sie als Proud to be Sensibelchen). Vielen Dank für die Inspiration!