Eine Busreise von Dehli bis an den Fuß des Himalayas
Im Juni ist es in der indischen Hauptstadt Delhi nicht selten wärmer als 45 Grad. Auch im Jahr Zweitausendzwölf waren es Anfang des Monats schon 47 Grad. Für Europäer sind das Temperaturen, die einem viel abverlangen: nach zwei Minuten an der „frischen“ Luft durchgeschwitzt wie nach einem Langstreckenlauf, schnelle Erschöpfung und Müdigkeit, Durchatmen fühlt sich an wie über einem Dampfbad oder in der Sauna, schlafen mit den surrenden Geräuschen von Klimaanlage und Ventilator, abkühlende Seen oder das Meer sind Tagesreisen entfernt, Abhilfe schafft nur der Besuch einer klimatisierten Shopping-Mall. Kurz um: Nach einer Woche ist die Sehnsucht nach Temperaturen unter 40 Grad unbändig.
Beliebtes Urlaubsziel bei Reisenden und Indern gleichermaßen: McLeod Ganj. Der Ort in den Bergen des Himalaya ist das Hauptquartier der tibetischen Regierung im Exil und Residenz von His Holiness the 14th Dalai Lama. Der Ort liegt auf knapp 2.000 Metern Höhe im Bundesstaat Himachal Pradesh und ist auch in den heißesten Monaten mit Temperaturen um 30 Grad angenehm „kühl“.
Ab Delhi fahren mehrmals täglich Busse in das knapp 500 Kilometer entfernte McLeod Ganj. Die Fahrt dauert zwischen acht und zehn Stunden und die Hälfte der Strecke schlängeln sich die vollen Busse über die engen Serpentinen in den Bergen.

Nicht weit vom Stadtzentrum in Delhi versammeln sich an einem meeting point, der nicht mehr als mit einem Pappschild an einer Straßenlaterne markiert ist, wenige Menschen und warten. Angekündigte Abfahrtszeit: 17 Uhr. Kein Bus weit und breit. Ankunft des Busses am meeting point: 17.45 Uhr.
Alle wartende Fahrgäste bekommen einen Eindruck davon, wie Busfahrer in Indien das Reisegefährt startklar für seine Tour machen: Mit prüfendem Blick läuft der Fahrer von vorne nach hinten durch den Bus und klaubt hie und da leere Chipstüten und Wasserflaschen von den Sitzen. Auf dem Weg zurück nach vorne werden die Fleecedecken für die Fahrgäste beherzt ausgeklopft und über die Rückenlehnen der Sitze gelegt. Raucherpause. Nachdem der Fahrer seine Bidies aus der Tür geworfen hat, prüft er die elektrische Beleuchtung für den Hindu-Gottheiten-Schrein, der einen großen Teil des Seitenfenster auf der Fahrerseite (in Indien rechts) verdeckt. Zufrieden lächelnd begutachtet er die blinkenden Lämpchen neben Ganesha, Shiva und Co., die an grell leuchtende Vorstadt-Weihnachtsdeko hierzulande erinnert. Raucherpause. Derweil treten die wartenden Fahrgäste mit einem Blick auf die Uhr (18.20 Uhr) ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Der Fahrer läuft zurück zur letzten Reihe des Busses und nestelt aus einer Pappschachtel in der Gepäckablage fünf Räucherstäbchen heraus, zündet diese an und schwängt sie summenden von hinten nach vorne laufenden durch den Bus. Nachdem er die glimmenden Räucherstäbchen am Schrein befestigt hat, widmet er sich erstmals den Fahrgästen bzw. ihrem Gepäck. Er öffnet die Gepäckklappe und beschriftet die ihm gereichten Taschen und Koffern mit kryptischen Kreidezeichnungen, bevor er sie im Bauch des Busses verschwinden lässt. Dann endlich dürfen die Fahrgäste Platz im Bus nehmen. Es folgen Kontrolle der Fahrkarten und eine willkürlich wirkende Umbesetzung der Reisenden im Bus – angeblich stimmen die reservierten Sitznummern nicht mit denen auf seiner Liste überein. Nachdem jedem sein Platz zugewiesen wurde, sitzen die indischen Reisenden vorne im Bus – nah am Fernseher, wo zu späterer Stunde Bollywood-Filme gezeigt werden. Die europäischen Reisenden (allesamt Backpacker) sitzen im hinteren Teil des Busses. Jeder Fahrgast bekommt noch eine Wasserflasche, bevor der Motor endlich aufheult. Tatsächliche Abfahrtszeit: 19.35 Uhr.

Der volle Bus kämpft sich schnaufend durch die belebten Straßen Delhis und verlässt nach 20 Uhr endlich die Stadt. Es geht auf unbefestigten Straßen vorbei an kargen Feldern und Müllbergen, durch kleine Dörfer und Wellblechsiedlungen. Um kurz nach 22.30 Uhr macht der Bus endlich an einer Gaststätte halt. Die Hitze zwingt einen dazu, viel Wasser zu trinken, welches dann irgendwann den Weg über die Blase wieder nach draußen nimmt. Die Fahrgäste haben es sehr eilig, aus dem Bus zu kommen… In zusammengezimmerten Unterständen kann die menschliche Notdurft verrichtet werden. Direkt daneben gibt es eine offene Garküche, in der die vordere Hälfte des Busses ihr Abendbrot kauft. Der hintere Teil versammelt sich vor dem Cola-Dosen- und Chipstütenstand.

Eine halbe Stunde später wird die Fahrt fortgesetzt und zum Einschlafen ein dreistündiger Bollywoodfilm in Hindi gezeigt. An den hinteren Teil des Busses wird jedoch auch gedacht. Denn: Obwohl man von dort aus den Bildschirm kaum erkennen kann, sind die Lautsprecher so eingestellt, dass kein Lied verpasst wird. Nach Ende des Films wird es ruhig im Bus und alle Fahrgäste fallen in einen unruhigen Schlaf, begleitet von der ständigen Betätigung der Hupe durch den Fahrer. Kaum in den Schlaf gefallen, erwachen viele wieder, weil der Bus sich durch die ersten Ausläufer der Berge zu schlängeln beginnt. Von links nach rechts wackelnd, den Blick aus dem Fenster starr in den Abgrund, wünscht sich bestimmt der ein oder andere Reisende zurück an einen sichereren Ort. Es werden immer wieder die Augen geschlossen, um die schmale Bergstraße und die bedrohlich nahen Abgründe nicht sehen zu müssen. Dann werden die Augen wieder geöffnet, um zu vermeiden, dass einem mit geschlossenen Augen bei dem ewigen Schaukeln nicht allzu schlecht wird. Der Busfahrer hat inzwischen noch ein Räucherstäbchen entzündet.
Wie durch ein Wunder erreicht der Bus um kurz nach 5.30 Uhr am Morgen sein Ziel: McLeod Ganj. Müde, aber sehr zufrieden über die noch kühle Luft, schnappt sich jeder sein Gepäck und begibt sich in der Morgendämmerung auf die Suche nach einer Unterkunft.



(Juni 2012)