„Ich merkte, dass meine Hände schweißnass geworden waren. Aber ich wollte natürlich den ganzen Brief meines Vaters lesen. Vielleicht war es gut, dass er einen Brief in die Zukunft geschickt hatte, vielleicht nicht. Es war noch zu früh, um mir dazu wirklich eine Meinung zu bilden.
Er muss ein komischer Kauz gewesen sein, dachte ich, jedenfalls mit neunzehn, in diesem Herbst gegen Ende der Siebzigerjahre, denn ich fand, er machte zu viel Aufhebens um eine Frau, die mit einer großen Orangentüte in den Armen in der Straßenbahn nach Frogner gestanden hatte. Es kommt doch nicht so selten vor, dass Männer und Frauen Blicke wechseln, das haben sie sicher schon seit Adam und Eva so gemacht.
Warum hatte er nicht einfach geschrieben, dass er sich in sie verliebt hatte? Das hatte die junge Dame sicher längst begriffen, als er sich über ihre Orangen hergemacht hatte. Er hatte schließlich auch einen Arm um sie gelegt. Vielleicht hatte er sich heimlich gewünscht, einen Orangenwalzer mit ihr tanzen zu können.
Wenn Kinder sich verlieben, raufen sie sich oder ziehen einander an den Haaren. Einige bewerfen sich auch gegenseitig mit Schneebällen. Aber einem Neunzehnjährigen hatte ich bisher mehr Verstand zugetraut.
Doch ich hatte erst den Anfang der Geschichte gelesen. Vielleicht hatte es um dieses »Orangenmädchen« wirklich ein Geheimnis gegeben? Wenn nicht, hätte mein Vater doch wohl kaum so viel über sie geschrieben. er war krank, er wusste, dass er vielleicht sterben müsste. Also musste das, was er schrieb, für ihn sehr wichtig gewesen sein, und vielleicht war es das für mich auch.“
(Jostein Gaarder: Das Orangenmädchen.)
Mein digitaler Adventskalender
Jeden Tag ein Türchen mit Zitaten aus Büchern, die mich berührt und inspiriert haben.