„Ruth saß in einer leeren Wohnung in Tel Aviv. Obwohl – richtig leer ginge anders. Es gab eine Matratze und ein paar weiße Schachteln von Ikea, eine Kaffeemaschine, einen Topf. In einer Flasche steckten Äste. Völlig unbekannte Äste. Ruth hielt Äste neben Bambus für die einzige akzeptable Blumenform. Sehr reizend, das kleine Grün aus dunklen Zweigen – doch nun staken da Äste, deren Knospen fast wie dicke Insekten am Stamm saßen. Ein großes Gefühl der Unvertrautheit – Äste, die man nicht versteht.
Ruth saß in der leeren Wohnung in einem Zustand völliger Verwirrung. Die Nerven in ihrem Körper vibrierten dermaßen, dass der Körper vor lauter Entsetzen mit einer Art Koma antwortete. Nun, wissenschaftliche Erklärungen waren nie ihres gewesen, Ruth wusste nicht genau, ob Nerven wirklich vibrieren konnten.
Um sich zu beruhigen, überlegte sie, wann ihr schon mal ein ähnliches Gefühl von Verzweiflung begegnet war, dieser Zustand, da ein Selbstmord fast vorstellbarer schien als weiterzumachen.
Aber zum Selbstmord bräuchte es eine zielgerichtete Aktion, und die war genauso unvorstellbar, wie zu tun, was man als Mensch so tut. Essen, rumlaufen, lesen, Zeit herumbringen.“
(Sibylle Berg: Die Fahrt.)
Mein digitaler Adventskalender
Jeden Tag ein Türchen mit Zitaten aus Büchern, die mich berührt und inspiriert haben.