Der Geruch der Karolinenstraße Nr. 6

Ich schraube den Deckel vom Glas und rieche an dem Öl. Der Duft von Kokos steigt mir in die Nase und weiter in den Kopf. Irgendwo dort in meinem Kopf öffnet dieser Geruch das Schatzkästchen der Erinnerungen. Und plötzlich befinde ich mich unter der Dusche in der Karolinenstraße in Hamburg. Neun Jahre zurück in die Vergangenheit. 

Eine Freundin hatte mir empfohlen, mit Kokosnussöl und Natron ein Deo selbst anzurühren. Total bio, hautverträglich und günstig und überhaupt alles. Also landet bei meinem Einkauf Kokosnussöl im Körbchen.

Zuhause krame ich dann das Glas mit dem Öl aus meinem Rucksack, um mich an das Zusammenrühren des Wundermittelchens für meine Achselhöhlen zu machen. Ich schraube den Deckel vom Glas und rieche an dem Öl. Der Duft von Kokos steigt mir in die Nase und weiter in den Kopf. Irgendwo dort in meinem Kopf öffnet dieser Geruch das Schatzkästchen der Erinnerungen. Und plötzlich befinde ich mich unter der Dusche in der Karolinenstraße in Hamburg. Neun Jahre zurück in die Vergangenheit.

Ich nehme noch einen tiefen Atemzug Kokosduft und erinnere mich wieder an die sechs Kasperlepuppen über den sechs Regalkästchen an der Badezimmerwand. Die Puppen wachen über die im Bad befindlichen Habseligkeiten von uns sechs Mitbewohnern. Mir ist die Prinzessin zugeteilt, also eigentlich ist sie Tills Wächterin der Zahnbürste, denn ich bin nur seine Zwischenmieterin. Und da ist das klitzekleine Fenster zum Lichtschacht über der Badewanne. Nicht selten höre ich über diesen Schacht das Leben in den anderen Badezimmern in der Karolinenstraße Nr. 6.

Noch ein tiefer Atemzug und ich erinnere mich daran, wie Arne an die Tür klopft und eine wichtige Frage hat. Ich tue so, als könne ich ihn nicht hören. Ach Arne… Das letzte Mal habe ich ihn in einem Videoclip gesehen. Mit Windel und Warnweste bekleidet scheint er der Kopf einer kreativen Gruppe zu sein, deren Sprachgesang und Performances ich nicht so richtig deuten kann, mir aber ein kopfschüttelndes Schmunzeln beschert.

Ich halte das Kokosnussöl in den Händen und stehe unter der Dusche in der Karolinenstraße und fühle mich schwer. Ich fühle mich schwer, weil ich es zum einen mit ein paar Kilos mehr als noch vor wenigen Wochen bin. Und ich fühle mich schwer, weil ein Praktikum im Hochsommer, mit einer Furie als Ressortchefin, während alle anderen Reisen oder am See rumhängen, schwer ist. Und weil Unglücklichsein und Nicht-so-richtig-verliebt-sein und mit 23 nicht jung und nicht erwachsen sein und Ich sein im Allgemeinen eben wirklich nicht leicht ist.

Das Wasser rauscht in meinen Ohren und ich überlege, was ich am Abend machen könnte. Vermutlich wird es ein Abend werden, wie ich sie in diesem Sommer in Hamburg immer verbringe: Zu viele Gin Tonics und ein Joint in der WG-Küche oder zu viele Zigaretten und Bier auf dem Kiez. Am Ende des Abends werde ich auf der Matratze vor dem Fenster in Tills Zimmer liegen und mich schwer fühlen. Aber immerhin schon etwas besser als auf dem Hochbett, auf dem ich gar nicht schlafen konnte und gleich in der ersten Nacht die Matratze vor das Fenster zerrte.

Ich stehe unter der Dusche und der Duft des Duschgels steigt mir in die Nase, während ich mich mit geschlossenen Augen einseife. Der warme Dampf verteilt den Geruch von Kokosnuss im ganzen Badezimmer. Vermutlich zieht er sogar durch den Lichtschacht in andere Badezimmer. Ich trockene mich ab und beschließe den Abend gemeinsam mit meiner Mitbewohnerin in ihrem Bett zu verbringen, dem einzigen Ort an dem ich mich in diesem Sommer nicht schwer fühle. Wir werden Columbo gucken, im Bett rauchen und Schokolinsen essen und irgendwann einfach einschlafen.

Der Kokosnussdampf verzieht sich langsam aus dem Badezimmer durch den Schacht und unter der Tür hindurch und ich möchte gerade nach dem angenehm kratzigen, dunkelblau verwaschenen Handtuch unter der Prinzessin greifen, als ich sich das Schatzkästchen der Erinnerungen schließt und ich in der Küche meines Freundes mit dem Kokosnussöl in der Hand stehe. Ziemlich genau neun Jahre später.

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