Wie fühlt es sich an?
Es ist ein Montagabend im Oktober. Draußen ist es dunkel und ungemütlich. Wir sind zu Hause und warten auf unseren Besuch. Übernachtungsgäste, die wir nicht kennen. Drei junge Männer aus Afghanistan, die die letzten Nächte auf der Straße verbracht haben. Mehr wissen wir nicht.
Um kurz nach halb neun klingelt es an der Tür. Wir stehen im Flur und lauschen den näher kommenden Schritten auf den Treppenabsätzen. Dann stehen sie vor uns. Sie sind zu viert. Vier Männer um die Dreißig, schätze ich. Einer lächelt uns breit an, gibt uns die Hand und stellt sich vor. Die anderen drei gucken betreten zu Boden, zwei von ihnen tragen Plastiktüten bei sich. Sie sind unsere Übernachtungsgäste.
Die drei Männer aus Afghanistan sind Geflüchtete und wollen nun wieder zurück in ihre Heimat. So lange die bürokratischen Vorgänge dafür andauern, müssen sie warten. Ohne feste Bleibe und wer weiß wie lange. Das alles erfahren wir von ihrem Begleiter. Er spricht Farsi, wir nicht.
Wir nutzen die Gelegenheit, um zu fragen, wie es am Morgen abläuft und ob unsere Gäste Hunger haben. Wir sollen sie morgens um kurz vor sieben wecken, damit sie pünktlich zum LAGeSo (Landesamt für Gesundheit und Soziales) kommen. Zwei von ihnen haben gegessen, der Dritte würde sich aber sicher über unsere Nudeln freuen. Dann muss er auch schon weiter und wir sind mit unseren Gästen allein.
Ob sie duschen wollen? Sie schütteln die Köpfe. Als wir ihnen dann aber Handtücher geben und erklären, dass sie wirklich gerne das Bad benutzen dürfen, nutzen sie doch die Gelegenheit. Ähnlich ist es mit dem Tee und den Orangen.
Ich frage mich, wie es sich wohl anfühlt, bei uns Gast zu sein? Ich werde den Eindruck nicht los, dass es ihnen sehr unangenehm ist, auf die Hilfe anderer angewiesen zu sein.
Mit einem Weltatlas und Händen und Füßen erfahren wir ihre Geschichte. Sie kommen aus Kabul, Kandahar und von der pakistanischen Grenzregion. Sie sind fast 6.000 Kilometer zu Fuß, auf Booten und mit der Bahn bis nach Berlin gekommen. Sie waren über drei Monate unterwegs. Wie fühlt es sich an, so lange unterwegs zu sein und nicht zu wissen, was einen unterwegs und am Ziel erwartet? Wir fragen sie nicht.
Mit einem Nokia-Ladegerät können wir noch ein Lächeln auf die Gesichter unserer drei Gäste zaubern und wünschen dann eine gute Nacht.
Kurze Zeit später liege ich auch im Bett. Im Nebenzimmer. Meine Gedanken kreisen um unsere Gäste: Wie fühlt es sich wohl an, in einem Land zu leben, in dem Krieg ist? Wie fühlt es sich an, die einzige Hoffnung darin zu sehen, die Heimat zu verlassen? Wie fühlt es sich an, die eigene Familie zurückzulassen und nicht zu wissen, ob und wann man sie wiedersieht? Wie fühlt es sich an, auf dem Weg ohnmächtig dem verheerenden Ausmaß der massenhaften Flucht gegenüber zu stehen und selbst ums Überleben zu bangen? Und wie fühlt es sich an, endlich am Ziel dieser beschwerlichen Reise zu sein, aber feststellen zu müssen, dass es unmöglich scheint, sich hier ein neues Leben aufzubauen? Und schließlich: Wie fühlt es sich an, bald zurückzukehren? Zurück zur Familie. Und zurück in den Krieg.