„Was auch auf dem Zettel stehen mochte, es musste irgendeine politische Bedeutung haben. Soweit er es überschauen konnte, gab es zwei Möglichkeiten. Die eine und weitaus wahrscheinlichere, dass das Mädchen als Agentin im Dienst der Gedankenpolizei stand, wie er befürchtet hatte. Er wusste zwar nicht, warum die Gedankenpolizei ihre Mitteilungen gerade auf diesem Wege übermitteln ließ, aber vielleicht hatte sie ihre Gründe dafür. Der Text auf dem Zettel konnte eine Drohung sein, eine Vorladung, die Aufforderung, Selbstmord zu begehen, eventuell auch eine Falle. Aber es gab noch eine andere, abwegigere Möglichkeit, die sich ihm immer wieder aufdrängte, obwohl er sich vergeblich bemühte, sie zu unterdrücken. Die Möglichkeit nämlich, dass die Nachricht gar nicht von der Gedankenpolizei kam, sondern von einer Untergrundbewegung. Vielleicht existierte die Bruderschaft ja doch! Vielleicht gehörte das Mädchen ihr an! Dieser Gedanke war zweifellos absurd, aber er war ihm gleich durch den Kopf geschossen, als er das Stückchen Papier in der Hand gefühlt hatte. Erst ein paar Minuten später war ihm die andere, wahrscheinlichere Möglichkeit eingefallen. Und sogar jetzt, wo ihm sein Verstand sagte, dass die Botschaft vermutlich sein Todesurteil beinhaltete, glaubte er dennoch nicht daran, und die unvernünftige Hoffnung blieb, und sein Herz klopfte; nur mit Mühe vermied er ein Beben in der Stimme, als er die Zahlen in den Sprechschreiber murmelte.
Er rollte die erledigten Arbeitspapiere zusammen und schob sie in die Rohrpost. Acht Minuten waren vergangen. Er rückte die Brille auf der Nase zurecht, seufzte und zog den nächsten Packen Arbeit zu sich heran; obendrauf lag der Zettel. Er strich ihn glatt. Darauf stand in einer großen, unbeholfenen Handschrift: Ich liebe dich.“
(George Orwell: 1984.)
Mein digitaler Adventskalender
Jeden Tag ein Türchen mit Zitaten aus Büchern, die mich berührt und inspiriert haben.