Türchen Zwölf

„Dass eine große, schwarze tropische Katze über zwei Monate lang im schweizerischen Winter überleben konnte, ohne dass jemand sie sah, und dass diese Katze nicht im Traum daran dachte, jemanden anzugreifen, zeigt, dass Tiere, die aus einem Zoo entweichen, keine entflohenen Sträflinge sind, sondern einfach nur Geschöpfe der Natur, die einen Platz zum Leben suchen,
Und das ist nur einer von vielen Fällen. Wenn Sie eine Stadt wie Tokio auf den Kopf stellten und kräftig schüttelten – Sie würden staunen, was da an Tieren herausfiele. Nicht nur Hunde und Katzen. Da spannen Sie besser den Regenschirm auf, denn es würde Boa Constrictors, Komodowarane, Krokodile, Piranhas, Strauße, Wölfe, Luchse, Wallabies, Manatis, Stachelschweine, Orang-Utans und Wildsauen regnen.“

(Yann Martel: Schiffbruch mit Tiger.)


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Jeden Tag ein Türchen mit Zitaten aus Büchern, die mich berührt und inspiriert haben.

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Türchen Elf

»Die Veränderung schafft die Illusion von Zeit. Die Wiederholung ist ihr Tod. Ein Tag, an dem alles gleich ist wie am Vortag, wäre der Beweis, dass es in Wirklichkeit die Zeit ist, die ausbleibt. Und ein Tag, an dem alles gleich ist wie an einem Tag vor Jahren, erst recht.«
Er wartete einen Moment, bis er den Eindruck hatte, Taler sei ihm gefolgt. Dann fuhr er fort: »Es gibt ein Indiz dafür, dass die Zeit vergeht: die Veränderung. Die Zeit ist wie eine Krankheit. Man erkannt sie nur an ihren Symptomen. Wenn sie weg sind, dann ist auch die Krankheit weg.«
Krupp trug beide Bierflaschen in die Küche und kam mit zwei neuen zurück. Er stellte sie sorgfältig auf die Untersätze auf den Tisch und setzte sich.
»Wenn uns jemand vor einer Viertelstunde fotografiert hätte, als die Flaschen noch voll waren, und jetzt wieder, wo sie wieder voll sind, und die Fotos vergleichen würde, würde er glauben, es seien nur Sekunden vergangen. Wenn wir uns anstrengen würden, ganz genau gleich zu sitzen wie auf dem ersten Bild, wäre keine Zeit vergangen. Wir könnten uns so in den Augenblick vor einer Viertelstunde zurückbegeben.«
Er nahm sein Bier vom Tisch. »Auf dieselbe Art können wir uns auch Tage, Monate, Jahre zurückversetzen.«

(Martin Suter: Die Zeit, die Zeit.)


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Türchen Zehn

„Ruth saß in einer leeren Wohnung in Tel Aviv. Obwohl – richtig leer ginge anders. Es gab eine Matratze und ein paar weiße Schachteln von Ikea, eine Kaffeemaschine, einen Topf. In einer Flasche steckten Äste. Völlig unbekannte Äste. Ruth hielt Äste neben Bambus für die einzige akzeptable Blumenform. Sehr reizend, das kleine Grün aus dunklen Zweigen – doch nun staken da Äste, deren Knospen fast wie dicke Insekten am Stamm saßen. Ein großes Gefühl der Unvertrautheit – Äste, die man nicht versteht.
Ruth saß in der leeren Wohnung in einem Zustand völliger Verwirrung. Die Nerven in ihrem Körper vibrierten dermaßen, dass der Körper vor lauter Entsetzen mit einer Art Koma antwortete. Nun, wissenschaftliche Erklärungen waren nie ihres gewesen, Ruth wusste nicht genau, ob Nerven wirklich vibrieren konnten.
Um sich zu beruhigen, überlegte sie, wann ihr schon mal ein ähnliches Gefühl von Verzweiflung begegnet war, dieser Zustand, da ein Selbstmord fast vorstellbarer schien als weiterzumachen.
Aber zum Selbstmord bräuchte es eine zielgerichtete Aktion, und die war genauso unvorstellbar, wie zu tun, was man als Mensch so tut. Essen, rumlaufen, lesen, Zeit herumbringen.“

(Sibylle Berg: Die Fahrt.)


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Türchen Neun

„Und plötzlich war da ein Meer mit einem Schiff, nur für Max, und er segelte davon, Tag und Nacht und wochenlang und fast ein ganzes Jahr bis zu dem Ort, wo die wilden Kerle wohnen.“

(Maurice Sendak: Wo die wilden Kerle wohnen.)


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Türchen Acht

„Wer einmal nicht nur mit den Augen, etwa als Luxusreisender auf einem Touristendampfer, sondern mit der Seele in Indien gewesen ist, dem bleibt es ein Heimwehland, an welches jedes leiseste Zeichen ihn mahnend erinnert. Wieviel tausendmal, seit ich vor vierzehn Jahren in Indien war, haben Kleinigkeiten auf dem Umweg über die Sinne mich erinnert, mich gemahnt, mir Heimweh geweckt! Einmal war es eine blecherne Palme im Ladenfenster eines Tabakhändlers, unter der ein rauchender Schwarzer stand, ein andermal war es der Geruch von Gewürzen, der Geschmack von Curry oder Ingwer, oder der Duft von Sandelholz, der indischste aller Gerüche.“

(Hermann Hesse: Sehnsucht nach Indien.)


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Türchen Sieben

„Ich wachte gegen Mittag auf, die Klimaanlage erzeugte einen tiefen Summton; meine Kopfschmerzen hatten etwas nachgelassen. Ich lag quer auf dem king size-Bett und machte mir Gedanken über den Ablauf der Rundreise und alles, was dabei auf dem Spiel stand. Die bis dahin noch nicht formierte Gruppe würde sich in eine lebendige Gemeinschaft verwandeln; bereits an diesem Nachmittag musste ich mich positionieren und schon die ersten Shorts für den Ausflug auf die ‚klongs‘ auswählen. Ich entschied mich für ein halblanges, nicht zu eng anliegendes Modell aus blauem Jeansstoff, das ich durch ein T-Shirt mit dem Aufdruck ‚Radiohead‘ vervollständigte; dann stopfte ich ein paar Sachen in den Rucksack. Im Badezimmerspiegel betrachtete ich mich mit Abscheu: Mein verkrampftes Bürokratengesicht stand im krassen Gegensatz zu meiner Aufmachung. Ich glich letztlich genau dem, was ich war: ein Beamter um die Vierzig, der versuchte, sich für die Dauer der Ferien als junger Mann zu verkleiden; es war deprimierend.“

(Michel Houellebecq: Plattform.)


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Türchen Sechs

„Es gibt ein großes und doch ganz alltägliches Geheimnis. Alle Menschen haben daran teil, jeder kennt es, aber die wenigsten denken je darüber nach. Die meisten Leute nehmen es einfach so hin und wundern sich kein bisschen darüber. Dieses Geheimnis ist die Zeit.
Es gibt Kalender und Uhren, um sie zu messen, aber das will wenig besagen, denn jeder weiß, dass einem eine einzige Stunde wie eine Ewigkeit vorkommen kann, mitunter kann sie aber auch wie ein Augenblick vergehen – je nachdem, was man in dieser Stunde erlebt.
Denn Zeit ist Leben. Und das Leben wohnt im Herzen.“

(Michael Ende: Momo.)


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Türchen Fünf

„Ich vermeide es nach Möglichkeit, viel Kontakt mit anderen Menschen zu haben. Wenn ich nämlich nicht so besonders viel von diesen anderen mitbekomme, kann ich mir die Illusion bewahren, ich wäre eigentlich, im tiefen Grunde meines Herzens, ein Menschenfreund. Zu häufige tatsächliche Begegnungen zerstören sehr nachhaltig dieses Selbstbild.“

(Sarah Schmidt: Bitte nicht freundlich.)


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Türchen Vier

„Ich merkte, dass meine Hände schweißnass geworden waren. Aber ich wollte natürlich den ganzen Brief meines Vaters lesen. Vielleicht war es gut, dass er einen Brief in die Zukunft geschickt hatte, vielleicht nicht. Es war noch zu früh, um mir dazu wirklich eine Meinung zu bilden.
Er muss ein komischer Kauz gewesen sein, dachte ich, jedenfalls mit neunzehn, in diesem Herbst gegen Ende der Siebzigerjahre, denn ich fand, er machte zu viel Aufhebens um eine Frau, die mit einer großen Orangentüte in den Armen in der Straßenbahn nach Frogner gestanden hatte. Es kommt doch nicht so selten vor, dass Männer und Frauen Blicke wechseln, das haben sie sicher schon seit Adam und Eva so gemacht.
Warum hatte er nicht einfach geschrieben, dass er sich in sie verliebt hatte? Das hatte die junge Dame sicher längst begriffen, als er sich über ihre Orangen hergemacht hatte. Er hatte schließlich auch einen Arm um sie gelegt. Vielleicht hatte er sich heimlich gewünscht, einen Orangenwalzer mit ihr tanzen zu können.
Wenn Kinder sich verlieben, raufen sie sich oder ziehen einander an den Haaren. Einige bewerfen sich auch gegenseitig mit Schneebällen. Aber einem Neunzehnjährigen hatte ich bisher mehr Verstand zugetraut.
Doch ich hatte erst den Anfang der Geschichte gelesen. Vielleicht hatte es um dieses »Orangenmädchen« wirklich ein Geheimnis gegeben? Wenn nicht, hätte mein Vater doch wohl kaum so viel über sie geschrieben. er war krank, er wusste, dass er vielleicht sterben müsste. Also musste das, was er schrieb, für ihn sehr wichtig gewesen sein, und vielleicht war es das für mich auch.“

(Jostein Gaarder: Das Orangenmädchen.)


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