„Auf der Rolltreppe zur Metro glitten die Petersburger an mir vorbei. Keine Frau, die nicht frisiert, geschminkt oder adrett gekleidet gewesen wäre. Und die Männer, eine Stufe unter ihnen, blickten sie an wie etwas Kostbares. Am Bahnsteig gab es eine lustige Drängelei: eine Art kollektiver Fortbewegung. Konnte ich einen Schritt nicht vollenden und stürzte schon, fand ich unversehens mein Gleichgewicht an fremden Schultern oder Rücken wieder.
Als ich den Gemüsemarkt erreichte, lief ich durch ein Spalier der Händler, die mich heranwinkten, als würden sie sich Luft zufächern. Ich probierte von den Wassermelonen und kostete Honig. Doch so fürsorglich man zu mir war, so grob vertrieb man eine Bettlerin, stieß mit Stöcken nach ihr, sobald sie eine Frucht berührte. Sie stöhnte auf, schlug die Hände vors Gesicht. Keine Stelle, die nicht blutig oder grindig war, ihr schwarzer Mantel schleifte im Staub, glänzte. Ich trat die zwei Schritte hinüber, steckte einen Zehntausender in ihre halb geschlossene Hand – und wich vor dem beißenden Geruch zurück. Trotzdem würde sie jetzt keine mehr von seinem Stand jagen.
Sie besah sich lange den Schein, stopfte ihn dann in die Tasche und glotze mich an. Statt aber den winkenden Händen zu folgen, verneigte sie sich vor mir, segnete mich, dankte, weinte, segnete, dankte, lallte mit schwerer Zunge und aufgerissenen Augen.“
(Ingo Schulze: 33 Augenblicke des Glücks.)
Mein digitaler Adventskalender
Jeden Tag ein Türchen mit Zitaten aus Büchern, die mich berührt und inspiriert haben.